Neue Pflegehunde?!

Der allgegenwärtige Stress für Tiere in Tierheimen

In jedem noch so gut geführten Tierheim sind die dortigen Tiere ziemlichem Stress ausgesetzt. Neben dem Lärm durch Hundegebell und Hundegekläffe herrscht ein ständiges Kommen und Gehen: mal wird gefüttert, mal werden Gehege und Ausläufe gereinigt, mal werden Hunde von ihren Gassigänger*innen abgeholt und wieder zurückgebracht, mal ist tierärztliche Untersuchung, mal schauen Interessierte vorbei … die Tiere kommen kaum zur Ruhe.

Große Aufregung im Außenbereich des Tierheims, durch vielstimmiges lautes Bellen und Kläffen angezeigt: Kyrill stakst ziemlich ratlos am Zaun hin und her und Suri kommt vom hinteren Auslaufbereich nach vorne zum Zaun getrabt, um zu checken, was los ist. Vor lauter Hektik startet Kyrill wieder mit seinem Laufen im Kreis. Die Youngsterboys Speedy und Chekotee halten sich abseits, auch sie fühlen sich durch den Lärm und die allgemeine Erregung unwohl.

Auch vor Besuchshunden macht der Stress nicht Halt: Speedy will sich grad nahe der am Zaun wachenden Suri hinlegen, als ihn etwas irritiert, weshalb er sich wieder aufrichtet und witternd die Umgebung scannt. Suri hält weiter Wache und Kyrill stellt sich am Zaun auf die Hinterpfoten, um alles besser beobachten zu können.

Ältere und kranke Hunde wie Suri und Kyrill leiden ganz besonders unter diesem allgegenwärtigen Stress. Bereits seit geraumer Zeit leben diese Hunde offenbar in einem massiven Stresszustand, welcher sich durch die Tierheim-Atmosphäre nur noch mehr verschlimmert hatte. Der permanent überhöhte Erregungslevel führt zu Unruhe, Anspannung, Aufgeregtheit, Hyperaktivität, verminderter Konzentrationsfähigkeit, mangelnder Impulskontrolle, geringer Frustrationstoleranz, gesteigerter Reaktivität bis hin zu Stereotypien und/oder exzessivem Zwangsverhalten.

Immer wieder gibt es Aufregung im Tierheim: Kyrill rennt am Zaun auf und ab oder er läuft beim Eingang dauernd im Kreis und Suri kommt, selbst wenn sie gerade „ruht“, bei der geringsten Kleinigkeit zum Zaun gerannt, um nach dem Rechten zu sehen. Bei sanftem Kraulen und beruhigenden Worten braucht sie einigermaßen lang, bis sie überhaupt registriert, dass es neben ihrer Aufgeregtheit auch etwas anderes gibt.
Was leider nicht mehr auf dem Video zu sehen ist, weil ich die Kamera weglegen musste, um beide Hände frei zu haben: Nachdem Suri sich mir zugewandt hatte, war sie zunächst irritiert, aber dann steckte sie ihren Kopf unter meinen Arm und ließ sich eine Weile zärtlich von mir knuddeln – das war ein wundervoller Moment:-)

Aufgrund der Aufregung rundum und ihrer eigenen inneren Aufgeregtheit können die Tierheimhunde nicht einmal in Ruhephasen wirklich entspannen. Eben deshalb führte ich vom ersten Tag an sog. „Chill-out“-Momente ein, damit Suri und Kyrill mit der Zeit lernen, aus ihrer ständigen Übererregtheit auch mal runterzufahren (meine Hunde kennen das bestens: wenn ich mich hinsetze und etwas lese oder auch nichts tue, dann ist Ruhezeit – wer will, kann natürlich zu mir kuscheln kommen).
Obwohl sich die beiden Tierheim-Schäfis relativ rasch an unser Ruhe-Ritual gewöhnt hatten und es mit jedem Mal immer lieber annehmen, sind sie dennoch in Alarmstimmung und scannen (wie auch Speedy und Chekotee) in allen Richtungen nach unliebsamen „Überraschungen“ – im Video (unten) ist dies deutlich zu sehen. Kyrill, der als einziger noch länger ruhelos vor dem Zaun steht, schafft es schließlich doch, sich hinzulegen, aber typischerweise direkt vor der Eingangstür. Suri macht ein kurzes nettes „Check-in“ bei Kyrill, trinkt einen Schluck Wasser, kommt dann zurück und legt sich wieder auf den kühlenden Erdboden.

Eigentlich ist grad unsere Ruhephase und alle Hunde – außer Kyrill – liegen, während ich gemütlich auf einem Baumstamm sitze. Doch das Abschalten und Chillen fällt im Tierheim nicht nur den dortigen Hunden, sondern ebenso uns Besuchern schwer.

Die vielen „Chill-out“-Wiederholungen wurden bald zu fixen Ritualen unserer Besuchsstunden: die Hunde konnten immer tiefer und länger entspannen, schließlich schliefen sie während der Ruhephasen sogar ein [dazu mehr im nächsten Blogartikel].

Trotzdem Entspannungs- und Ruheübungen einen wesentlichen und auch höchst wertvollen Teil der Arbeit mit Tierheimhunden bilden, steht man immer noch vor einem Berg (oder gar Gebirge) an weiteren Baustellen, v.a. bei solchen Tierheimhunden, die – wie Suri und Kyrill – bereits Verhaltensauffälligkeiten, um nicht zu sagen Verhaltensstörungen zeigen, z.B. Kyrill´s stereotypes „Im-Kreis-Laufen“. Suri wiederum betreibt zwanghaft-exzessives Ballspiel, gepaart mit ebenso zwanghaft-exzessivem Bekauen und Verscharren des Balls (oder jeglichen anderen Spielzeugs, dessen sie habhaft wird). [Zu Stereotypien und Zwangsverhalten mehr im folgenden Blogartikel.]

Autor: Mirjam Silber

Ethnomusikologin (Feldforschung zur jüdischen, speziell jiddischen Musik & Lehre an der Universität Wien), Sängerin (Klezmer-Ensemble Scholem Alejchem), Bibliothekarin/Archivarin, Pädagogin, Zertifizierte Kynologin, Canidenforscherin (Schwerpunkt Hunde und Wölfe), Assistenzhundetrainerin und Expertin für Hunde mit (deprivationsbedingten) Ängsten, Natur- und Artenschützerin, Mitwirkende im Wolfsmonitoring (LfU), Sprecherin des Landesarbeitskreises "Wolf und Herdenschutz" beim BUND Brandenburg, Mitglied bei Alnus e.V. (Moor-AG), Mitarbeiterin bei Palanca e.V. (Afrikanischer Kulturverein in Eberswalde), aktives Mitglied in den Eberswalder Vereinen "Freundeskreis Israel in Eberswalde e.V.", "Finower Wasserturm und sein Umfeld e.V.", "Verein für Heimatkunde Eberswalde e.V." sowie in der Initiative "Spuren jüdischen Lebens in Eberswalde", aktueller Forschungsschwerpunkt: Jewish Heritage in Eberswalde (insbes. Messingwerksiedlung und Hachschara), Guided tours zum jüdischen Eberswalde und Referentin über jüdisches Leben heute

2 Kommentare zu „Neue Pflegehunde?!“

  1. Das Tiere überhaupt in einem Tierheim leben mussen ist für mich schon schlimm genug. Wenn ich dann noch höhren muss wie schlecht es den Tieren dabei geht werde ich ein wenig wütend. Ich frage die ich mir jetzt stelle ist warum mussen so viele Tiere dort leben? Können wir nix machen damit es weniger Tiere werden die ins Tierheim müssen?

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    1. Hallo Christian, vielen Dank für deinen Kommentar und dein Mitgefühl für Tierheimtiere. Es braucht ein gesellschaftliches Umdenken im Umgang mit Tieren. Wenn die Menschen, die sich bspw. Hunde anschaffen, sich bereits im Vorfeld über Hunderassen informieren und den Hund aussuchen, der tatsächlich zu ihnen und ihrem Alltagsleben passt (anstatt nur nach dem Aussehen zu gehen oder eine Moderasse zu wählen), wenn sie lernen, wie Hunde ticken, wie sie kommunizieren, welche Bedürfnisse sie haben usw., wenn sie sich bei Problemen an kompetente, gewaltfrei und positiv arbeitende Hundetrainer wenden würden, dann wäre die Zahl der Tierheimhunde schon mal geringer. Wenn die Leute auch tatsächlich, wie es sich gehört, lebenslang Verantwortung für ihren Hund übernehmen würden, d.h. den Hund nicht zur Urlaubszeit oder weil er krank bzw. alt wird abschieben bzw. aussetzen, dann wäre die Zahl der Tierheimhunde bedeutend geringer. Ein Tier ist eben kein Gegenstand, den man wegwirft, wenn er einem nicht mehr gefällt, sondern ein fühlendes, denkendes und – insbes. im Falle des Hundes – hochkomplexes hochsoziales Wesen. Dass dies noch lange nicht Allgemeinwissen ist, sehen wir ja an der Massentierhaltung!
      Die Story von Suri und Kyrill ist eine ganz besonders tragische, denn beide wurden schon relativ früh krank (Suri mit Arthrose und Kyrill mit Bauchspeicheldrüseninsuffizienz) und offenbar deshalb von ihren Haltern weggegeben – sie haben den Großteil ihres 8-jährigen Lebens in Tierschutzeinrichtungen verbracht. Zuletzt kamen sie ins Tierheim am See in Eisenhüttenstadt, das ein gutes Tierheim ist, wo es keine Einzelhaltung in Zwingern gibt, sondern die Hunde leben in Kleingruppen zusammen (wobei sehr darauf geachtet wird, dass bei allen die Chemie stimmt und es kein Mobbing gibt) und haben ihren großen Auslauf, der für jeden einzelnen Hund auch Rückzugsmöglichkeiten bietet, stets zugänglich. Doch wie ich in meinem Blogpost schrieb, auch wenn das Tierheimpersonal noch so kompetent und fürsorglich ist, für wirklich individuelle Betreuung bleibt einfach nicht ausreichend Zeit, außerdem herrscht im Tierheim ein Kommen und Gehen, was es den Hunden erschwert, zur Ruhe zu kommen, darunter leiden alte und kranke Hunde am meisten.
      Deshalb wollte ich die beiden Schäferhunde Suri und Kyrill in meinen Tierschutzverein „Schlaubetal-Caniden e.V.“ als Pflegehunde aufnehmen – Voraussetzung dafür ist aber, dass sie sich mit meinen vereinseigenen Pflegehunden Speedy und Chekotee gut vertragen. Um das Kennenlernen und die Gewöhnung aneinander zu fördern, machte ich gemeinsam mit Speedy und Chekotee Besuche bei den Schäfis im Tierheim (dazu verfasste ich bereits einige Blogposts mit Videos, es sollen noch weitere Blogposts folgen, doch bislang hatte ich keine Zeit dazu). Leider passte die Chemie zwischen meinen ängstlichen Pflegehunden und den hyperaktiven Schäfis überhaupt nicht, also sind Suri und Kyrill nach wie vor im Tierheim – trotz mehrerer Aufrufe bei Facebook etc. fanden sich immer noch keine Schäferhund-Freunde, die Suri und Kyrill aufnehmen.
      Mein Verein „Schlaubetal-Caniden e.V.“ hilft v.a. Tierschutzhunden, zurzeit betreue ich zwei Hunde und fünf Katzen aus dem Tierschutz, zudem sind wir für das Tierheim am See Pflegestelle für sog. „Angsthunde“, aber auch für Notfälle, wie bspw. die beiden Schäfis, die aufgrund ihrer Erkrankungen individuelle Betreuung dringend nötig hätten, doch leider hat das nicht geklappt. Kuck dir doch bitte mal unsere Website http://www.schlaubetal-caniden.de an, damit du siehst, wofür wir uns einsetzen. Durch Corona sind wir schwer betroffen, weil wir dieses Jahr keine Veranstaltungen machen durften, insofern würde ich mich freuen, wenn du uns durch eine Spende oder eine Mitgliedschaft unterstützt, außerdem suchen wir für zwei von den Kätzchen ein gutes Zuhause.
      Schöne Grüße, Mirjam

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